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Charlotte Freudenthal, 1990
 
Redevortrag am 3. Juni 1990 auf einer Veranstaltung der Volks-Universität zum Thema »Frauen im Widerstand gegen den deutschen Faschismus«.
 
Mit frd. Genehmigung entnommen aus: Jochheim, Gernot (2002) Frauenprotest in der Rosenstrasse Berlin 1943. Berichte - Dokumente - Hintergründe. Teetz: Hentrich & Hentrich. S. 64-65.
 
Ich bin Charlotte Freudenthal und in Berlin-Charlottenburg 1910 geboren. Ich freue mich, daß ich heute hier bin - um mich herum so viele junge Leute. Vor so vielen Leuten habe ich noch nie gesprochen. Ich will hauptsächlich davon erzählen, was 1943 in der Rosenstraße passiert ist, weil darüber so wenig gesprochen wird und so wenig bekannt ist.
 
1933 habe ich geheiratet. Da waren die Nazis schon ein halbes Jahr an der Regierung. Ich sage das, weil mein Mann Jude war. Er hieß Julius Israel und ich nach der Heirat Charlotte Israel. Der Name »Israel« ist ja schon jüdisch. Als aber alle männlichen Juden ab 1. Januar 1939 den zusätzlichen Namen »Israel« tragen mußten - die Frauen den Namen »Sara« -, da hieß mein Mann nun Julius Israel Israel.
 
Am 27. Februar 1943 ging mein Mann zur Polizei, um sich eine Bescheinigung zu holen, damit er zur Arbeit fahren konnte. Ab 7 km Arbeitsweg bekam man als Jude eine Genehmigung, daß man zur Arbeit fahren durfte. War der Weg kürzer, mußten die Juden laufen. Abgesehen davon, daß mein Mann auch etwas gehbehindert war, konnte er sich diese Genehmigung holen. Jeden Monat neu.
 
Als mein Mann nun an jenem Sonnabend auf das Polizeirevier kam, wurde ihm nur gesagt: »Nehmen Sie mal Platz!« Die Polizisten auf dem Revier waren übrigens immer sehr nett, auch zu mir. Da saßen nun schon drei Frauen, verschüchtert und ängstlich, auch mit dem Stern. Auch die Frauen konnten nicht sagen, was das zu bedeuten hatte. Irgendwann kam dann aber ein Polizist mit noch zwei weiteren jüdischen Frauen und sagte: »Kommen Sie mit!« Dann wurden sie in die Rosenstraße gefahren. In das Sammellager.
 
Der 27. Februar 1943 - das war der Tag der Fabrik-Aktion. Goebbels wollte ein »judenfreies« Berlin und hatte sich überlegt, daß man die meisten Juden, die noch in Berlin lebten, an ihren Arbeitsplätzen erwischen könnte. Bei meinem Mann war das nun nicht nötig gewesen. Er war ja in gewisser Weise direkt in die Höhle des Löwen gegangen.
 
Als er dann stundenlang nicht nach Hause gekommen war, bin ich zu dem Polizeirevier gegangen und habe gefragt, was los wäre. Da hat einer der Pollzisten zu mir gesagt: »Gehen Sie mal in die Rosenstraße.« Ich hatte keine Ahnung, wo das war. Er hat es mir noch erklärt. Von Charlottenburg aus war es ja leicht, dorthin zu kommen. Mit der Stadtbahn bis Bahnhof Börse. Dann bin ich also hingefahren. Ich habe noch meinen 13jährigen Bruder mitgenommen. Als wir am Bahnhof ausstiegen, konnte man von Ferne schon Rufen hören, so eine Unruhe, die entsteht, wenn viele Menschen zusammen sind.
 
Inzwischen war es längst dunkel geworden. Und dann sah ich viele Menschen in der Rosenstraße. Die meisten waren Frauen. Vor dem Gebäude standen SS-Leute, breitbeinig. Die ließen natürlich niemanden rein. Sie sagten, wir sollten nach Hause gehen. Das haben wir nicht gemacht. Erst später, denn es war kalt. Aber wir haben abgesprochen: »Wir kommen wieder.« Schon am nächsten Morgen.
 
Wie mir war es vielen ergangen. Die Männer oder Kinder waren nicht nach Hause gekommen, wie sonst von der Arbeit, und irgend jemand hatte sie zur Rosenstraße geschickt.
 
Am nächsten Tag waren dann in der Rosenstraße noch mehr Menschen. Wir haben immer wieder, immer weiter, jeden Tag geschrien: »Wir wollen unsere Männer wiederhaben!« Wir wußten, was passieren würde, wenn wir sie nicht herausbekämen. Einer von der SS hat gesagt: »Lange geht das nicht gut. Das könnt ihr euch merken.«
 
Wir haben auch Sachen in das Gebäude gegeben. Mein Mann war doch von unterwegs in die Rosenstraße gebracht worden. Er hatte nichts mit, keine Wäsche, gar nichts. Ich habe ihm also einiges eingepackt.
 
Wir haben keine Angst gehabt. Ich meine, vielleicht hatten welche Angst. Das ist ja auch normal.
 
Dann haben wir sie soweit gebracht, daß sie Maschinengewehre aufgestellt haben. Sie haben gesagt: »Wir schießen jetzt! Wenn Sie nicht gehen, schießen wir«.
 
Einige wenige sind weggelaufen. Daß alle bleiben, kann man ja nicht erwarten. Auch zu meinem Bruder habe ich gesagt, er solle wegrennen. Wir anderen haben aber gerufen - ich stand so in der Mitte -: »Nicht zurückgehen! Nicht zurückgehen!«
 
Dann bin ich nach vorne geschoben worden. Ich stand genau vor einem der Maschinengewehre. Ich sah, wie sie solche Gurte in das Maschinengewehr einzogen.
 
Ich kannte das ja früher alles nicht. Dann schrien sie irgend etwas. Aber wir schrien nur noch lauter: »Ihr Mörder! Ihr Feiglinge!« Ich habe daran gedacht, was werden wird, wenn wir erschossen würden. In der Hauptsache habe ich an meinen Mann gedacht. »jetzt kann ich ihn überhaupt nicht mehr retten«, habe ich gedacht. »jetzt ist alles aus.«
 
Es war grauenhaft, wie laut es war, wie laut wir geschrien haben. Dann rief ein SS-Mann etwas, was ich aber nicht verstanden habe. Und da - räumten sie ab. Sie räumten die Maschinengewehre ab. Da wurde es ganz still, es war alles ganz still.
 
Irgendwann bin ich dann nach Hause gegangen. Mein Bruder hatte meiner Mutter gesagt, »Charlotte ist jetzt bestimmt schon tot.«
 
Mein Mann kam am 7. März frei. Ich arbeitete damals in einem Milchgeschäft. Und an dem Sonnabend habe ich da auch gearbeitet. Da kam ein Herr rein und gab mir einen Zettel. Darauf stand, daß mein Mann am nächsten Tag entlassen werden würde. Ich weiß nicht, wer dieser Mann war.
 
Und dann kam mein Mann tatsächlich nach Hause. Er sah nicht sehr gepflegt aus. Aber er hatte sich rasieren lassen. Er hat lachend gesagt: »Ich hätte doch sonst ausgesehen wie ein Jude.«
 
Wir haben die 12 Jahre durchgestanden. Es waren schreckliche Jahre. Das gebe ich zu. Aber ich hätte meinen Mann niemals verlassen, niemals.