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- Ruth Gross-Pisarek: Rede
1999
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- Rede von Dr. Ruth Gross-Pisarek
auf der Veranstaltung der »Topographie des Terrors« zur
Einweihung der Litfaßsäulen in der Rosenstraße
und an der Karl-Liebknecht-Straße am 4. März
1999
- Mit frd. Genehmigung entnommen
aus: Jochheim, Gernot (2002) Frauenprotest in der Rosenstrasse
Berlin 1943. Berichte - Dokumente - Hintergründe. Teetz:
Hentrich & Hentrich. S. 102-105.
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- Obwohl die Ereignisse dieses
Ortes, deretwegen wir heute hier sind, 56 Jahre zurückliegen,
kann ich nicht ohne Beklommenheit hier stehen. Manche Gefühle
und Erlebnisse verblassen nicht.
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- An jenem Sonnabend, dem 27.
Februar 1943, kam auch unser Vater, Abraham Pisarek, nicht von der
Fabrik in der Frankfurter Allee, in der er als Heizer Zwangsarbeit
leistete, nach Hause. Von dem Vater meiner Freundin Erika Hecht,
der als Kriegsversehrter des 1. Weltkriegs noch nicht deportiert
worden war, erfuhren wir, daß die Männer aus den
Mischehen möglicherweise im Haus der jüdischen Gemeinde,
Rosenstraße 2-4, eingesperrt wären. Tatsächlich
war mein Vater am frühen Morgen auf einem offenen Lastwagen
mit allen anderen jüdischen Zwangsarbeitern der Fabrik
zunächst ins »Clou« und dann hierher gebracht
worden. Hier, vor dem Haus Rosenstraße Ecke Heidereutergasse
trafen wir am Abend desselben Tages die ersten Schicksalsgenossen,
wir, das waren unsere Mutter Berta Pisarek, mein damals
13jährlger Bruder Georg und ich, ein 1 ljähriges
Kind.
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- Vor der Tür stand ein Mann
in Zivil, offenbar ein jüdischer Ordner, der uns den Eintritt
verwehrte, dem wir aber später am Abend ein
Stullenpäckchen mit dem Namen aufdrängen
konnten.
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- Die Litfaßsäule, die
damals hier stand, wurde für 1 Woche mein strategisch
wertvoller Stammplatz. Schon am Sonntag hatte ich hinter der
Fensterscheibe im 3. Stock meinen Vater entdeckt, er winkte hinter
der Scheibe vorsichtig mit der Hand, in der er ein kleines
weißes Zettelchen hielt, d. h. er hatte unser
Stullenpäckchen erhalten, in das wir ein Liebesbriefchen
hereingelegt hatten. Natürlich war dieser Platz am Fenster
begehrt, die Männer, die eingezwängt in den Zimmern
standen, hofften ja alle, ihre Frauen draußen zu entdecken.
Ich stand schon deshalb oft und lange da unten, um ihm jeden Tag
wenigstens einmal zuwinken zu können.
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- Die Litfaßsäule war
zudem ein besonders günstiger Platz für mich, weil ich
bei den Versuchen der Polizei, die Frauen zu vertreiben, nur
langsam um die Litfaßsäule herumzugehen brauchte, um
nicht beachtet zu werden. Die Polizei kam nie mit einem
großen Aufgebot. Die Frauen wichen widerstrebend in die
umliegenden Straßen aus, um nach kurzer Zeit wieder zu
erscheinen und ihren Posten einzunehmen.
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- Wann immer wir kamen, trafen
wir auf Frauen, die einzeln oder in kleineren oder
größeren Gruppen in einigem Abstand vor dem Haus
standen oder auf und abgingen, Tag und Nacht.
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- In der Nacht vom 1. auf den 2.
März gab es einen Luftangriff, bei dem große Teile der
Innenstadt getroffen wurden. Als wir durch die Oranienburger
Straße, in der wir wohnten, unter dem Bahnhof Börse
hindurch hierher liefen, war der nächtliche Himmel über
uns und um uns herum von vielen Feuern erleuchtet. Die Stadt
brannte, doch das Gefängnis-Gebäude fanden wir dunkel
und still, unversehrt.
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- Die Frauen, die wie wir nach
der Entwarnung hierher geeilt waren, flüsterten untereinander
von Sodom und Gomorra und einem Gottesgericht. Wir da auf der
nächtlichen Straße, die wir wußten, daß in
dem scheinbar friedlichen Haus in jedem Stockwerk Hunderte von
schlaflosen Menschen saßen und standen, gequält von
Hunger und Enge, waren wie sie umklammert von der tödlichen
Angst vor dem nächsten Tag.
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- Am frühen Morgen des 6.
März, wieder ein Sonnabend, kam unser Vater tatsächlich
nach Hause, mit einem Entlassungszettelchen, völlig
erschöpft, hungrig, müde, stoppelbärtig. Um 14 Uhr
Vorstellung bei der örtlichen Pollzel, am Sonntag Abordnung
zu einem sog. Himmelfahrtskommando, d. h. Möbelräumung
aus Häusern, in denen Blindgänger lagen. Am Dienstag
wieder Polizei. (Er mußte sich von Sept. 39 an jedem
Dienstag auf unserem Polizelrevier melden. Die Liste habe ich
noch. Dienstag der 2. März 43 fehlt, dafür ist
Sonnabend, der 6. März und Dienstag der 9. März
eingetragen. Die letzte Meldung erfolgte am Dienstag, dem 17.
April 45. Dann zurück zur Zwangsarbeit in die Fabrik, noch
einmal Vorladung zur Gestapo in der Burgstraße -
möglicherweise nach einer Denunziation durch eine
Hausbewohnerin - weiter Zwangsarbeit, aber in Berlin, keine
Deportation.
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- Meine Eltern heirateten 1928.
Meine Mutter liebte natürlich meinen Vater, sie liebte auch
die biblische Gestalt der Ruth und die Worte, die sie zu ihrer
Schwiegermutter Naomi sagte. Wo du hingehst, will ich hingehen...
Deshalb nannte sie mich Ruth und deshalb hat sie mir oft in meiner
Kindheit diese biblische Geschichte erzählt.
-
- Aber 1928 konnte sie, bei allem
politischen Gespür, das ihr eigen war, nicht ahnen, was
dieses Versprechen, das sie zu ihrem eigenen gemacht hatte, ihr
abverlangen würde.
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- Die Woche vom 27. Februar bis
zum 6. März 1943 war für meine Mutter und alle diese
Frauen und Männer aus den sog. Mischehen, die sich hier
unverabredet zusammenfanden, fraglos ein außerordentliches
Ereignis, schon weil sie hier zum ersten und einzigen Mal in
großer Zahl gemeinsam und öffentlich auftraten, es war
dennoch nur 1 Woche in 12 Jahren, in denen sie jeden Tag von
Anbeginn tapfer und standhaft sein mußten, jeden Tag und
jede Nacht.
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- Sie mußten, um ihre
Familien zu retten, das zum Gesetz erhobene Unrecht unterlaufen.
Dazu brauchten sie nicht nur Mut, sondern die Courage auch zu
Verstellung, Lüge und Betrug, Kaltschnäuzigkeit, Tricks
und Winkelzügen, Camouflage.
-
- Sie wurden öffentlich und
privat diffamiert als »Judenhuren«,
»Rasseschänder« und »Volksverräter«,
und sie wurden bedrängt, sich scheiden zu lassen. Dabei
versuchte die Gestapo mit der ihr eigenen Infamie, den Frauen
weiszumachen, mit einer Scheidung würden sie nicht nur sich,
sondern vor allem ihre Kinder retten und ihnen ein normales
unangefochtenes Leben sichern. Sie hätten entfliehen
können. Eine Tür stand offen, aber nur sehr wenige sind
durch sie hindurchgegangen.
-
- Vielmehr versuchten sie ihre
Männer und Kinder zu schützen und sie vor dem
Schlimmsten, der Deportation zu bewahren, indem sie sich vor und
neben sie stellten, in dieser Woche der unermüdlichen
Patrouillen um das zum Gefängnis gewordene Haus herum, im
wörtlichen Sinn einen Schutzwall um sie herum bildeten, und
indem sie lautstark auf ihren Status als sog. Arierinnen, als
deutsche Volksgenossen, als Ehefrauen pochten. Sie wußten
wie alles entscheidend ihre Präsenz war, ihr kluges und
selbstsicheres Auftreten.
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- Ich erinnere mich an einen
Abend zu Hause, nach einem dieser schrecklichen Luftangriffe, als
meine Mutter plötzlich anfing zu schreien, keine Worte, sie
schrie einfach, laut, unartikuliert wie ein gequältes Tier.
Sie schien völlig am Ende, weil die Tage und Nächte der
Angst und Verzweiflung kein Ende zu nehmen schienen. Aber sie hat
sich wieder gefaßt und sie hat durchgehalten bis zum Ende,
das dann doch kam: bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Mai
1945.
-
- Die Frauen und Männer, die
hier in diesen Tagen zu jener Zeit demonstrierten und
protestierten, haben einige tausend Jüdischer Männer und
Kinder davor bewahrt, deportiert und ermordet zu
werden.
-
- Sie haben uns etwas Kostbares
hinterlassen, nämlich den Beweis dafür, daß Mut
und Treue lebbar sind, Treue nicht nur zu geliebten Menschen,
sondern auch zum eigenen Wort, zu Anstand und
Würde:
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- Sie haben die Worte, die die
Moabiterin Ruth einst gesagt haben soll, in gelebtes Leben
verwandelt:
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- Rede mir nicht ein, daß
ich dich verlassen und von dir umkehren soll, denn wo du hingehst,
will ich hingehen. Wo du weilst, will ich weilen. Dein Volk ist
mein Volk und Dein Gott mein Gott. Wo Du stirbst, will auch ich
sterben und da will ich begraben sein. Allein der Tod wird mich
und Dich scheiden.
-
-