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Textauszug aus dem Roman:
Die Bilder des Zeugen Schattmann
von Peter Edel
 
In: Edel, Peter (1973) Die Bilder des Zeugen Schattmann. Berlin/DDR: Verlag der Nation. S. 310 - 315.
 
Als man ihn abholte von der Fabrik, hatte man auch seinen Vater geholt, zusammen mit Flatau. Hätte nicht dessen Nachbarin die Mutter angerufen, wäre es zu spät gewesen, etwas zu unternehmen. So aber war sie kurz darauf von einem Bekannten zum anderen gelaufen, hatte endlich einen Wink bekommen: Männer von arischen Frauen seien in die Rosenstraße gebracht worden. »Ich habe geglaubt, daß du auch in der Rosenstraße bist, du und Esther. Ich war außer mir vor Angst um euch drei.«
 
Ich muß ihr verbieten weiterzusprechen, denkt Frank. Sie wird's nicht aushalten, aber ich muß doch alles wissen. Und er hört weiter, sein Ohr dicht an ihrem Mund, daß sie sich den Mantel über den Schneiderkittel geworfen hat und zur Rosenstraße, zum einstigen alten Verwaltungshaus der jüdischen Gemeinde gefahren ist. Und er sieht sie vor sich, die gehetzte kleine Frau, die immer auf ihr Äußeres gehalten hat, sieht, wie sie mit ungekämmten Haaren, in ihrem schwarzen-Mantel, unter dem der weiße Kittelsaum vorlugt, bis zu den Bewachern am Haustor vordringt, wie sie mit einem Beamten spricht. Der zuckt die Achseln. »Da müssen Sie schon zur Stapo gehen.« Und sie geht zur Gestapo-Leitstelle Burgstraße. Wird schon beim Pförtner mit gemeinen Worten abgewiesen, als sie ihr Anliegen vorbringt. Zwei Frauen stehen vor dem Eingang, die das gleiche gewagt haben, und da sie alle drei nicht weichen wollen, kommt der SS-Mann aus seiner Bude und herrscht die Frauen an: »Sie können natürlich auch gleich hierbleiben.« Grete Schattmann erfährt von den Frauen, daß auch deren Männer in der Rosenstraße eingesperrt sind, erfährt Adressen anderer, die sich zusammentun wollen, bereits seit Stunden einen verzweifelten Versuch beraten.
 
Ihr Vorhaben verbreitet sich von Mund zu Mund, und am nächsten Morgen - es ist jener Tag, an dem Alois Brunner die Sammellager im Clou, in der Hamburger Straße, Lützowstraße und in der Hermann-Göring-Kaserne zu inspizieren beginnt - ziehen alle diese Arierinnen, auch einige mit Jüdinnen verheiratete Männer nun gemeinsam, nun zum letzten entschlossen vor das Gebäude in der Rosenstraße. Vom Hackeschen Markt aus kommen sie in kleinen Gruppen heran, vereinigen sich, verharren schweigend vor dem Bürohaus, das die Gestapo zu einem ihrer Quartiere und zum Gefängnis bestimmt hat.
 
Stumm, drohend stehen die Frauen, Kinder auch darunter, eingemummt stehen sie in der Kälte, nahezu dreihundert Menschen sind es um die Mittagszeit. Sie sehen hinauf zu den verschlossenen Fenstern, hinter denen sich manchmal ein Schatten zu regen beginnt. Dann recken alle ihre Hälse, hoffend, einen Angehörigen zu entdecken. Ab und zu, wenn sich die Haustür um ein weniges öffnet, drängt die Menge nach vorn, einige der letzten jüdischen Gemeindeangestellten sieht man dort als Ordner im Flur, und Grete Schattmann, die in der vordersten Reihe steht, sieht Fritz Marcus und winkt. Aber er sieht sie nicht, die Tür schlägt schon wieder zu.
 
Längst sind Polizisten aufgetaucht, umkreisen die Menschenansammlung, versuchen sie auseinanderzusprengen. Vergebens, immer aufs neue schließen sich die Frauen zusammen oder wandern hin und her. In ihren Gesichtern ist etwas, das selbst die Polizisten hindert dreinzuschlagen. Die Hände schon an den Knüppeln, die Sturmriemen der Tschakos unters Kinn gezogen, sehen sie sich machtlos angesichts dieser durch nichts mehr zu ängstigenden Menschen.
 
Am Ende der Rosenstraße, wo die Neue Friedrichstraße abzweigt, schiebt sich ein schwarzer Wagen heran, stößt an die Menschenmauer. Männer mit sonderbar nach hinten geknifften Hüten springen heraus, beraten sich; mustern die Frauen, gehen schlenkernd, Hände in den Taschen, Zigarette im Mundwinkel, auf die Polizisten zu.
 
»Auseinandergehen!« Niemand hört auf sie, alle hören nur auf die dünnen hellen Stimmen, die sich jetzt hier und da erheben. Eine Frau hat damit begonnen. »Gebt meinen Mann heraus!«. Lauter, nachhaltiger, sich gegenseitig Mut machend rufen sie schließlich hundertstimmig: »Gebt unsere Männer frei, gebt unsere Männer heraus!«
 
Und Grete Schattmann ruft es, während ihr Tränen übers Gesicht laufen und sie sich festhalten muß an den Armen ihrer Gefährtinnen, da sie einen gräßlichen Schmerz in der Brust fühlt. »Meinen Mann, meinen Sohn heraus!«
 
Die Polizisten, die Gestapo-Leute stehen, wohl zum erstenmal, ratlos da. Das haben sie nicht erwartet, am hellichten Tag auf offener Straßel Ein Glück, daß Sonntag ist, daß die Geschäftshäuser leer sind. Die Frauen bemerken das Zögern, die schlecht verhohlene Wut. Die werden nicht wagen zu schießen. Eingekeilt in dem Kordon, der sich enger um sie zieht, rufen sie. »Aushalten!« grollt es durch die Reihen.
 
Grete Schattmann entsinnt sich nicht, wie und von wem sie schließlich nach Hause gebracht worden ist, nicht, wie diese erste und sich wohl auch nie mehr wiederholende Demonstration, die in Berlin öffentlich gegen die Gestapo aufzustehen wagte, verlaufen ist. Grete Schattmann weiß nach all den Stunden bloß, daß ihr Mann in der Rosenstraße ist; eine schwache Hoffnung läßt ihr kaputtes Herz noch weiterschlagen, denn
 
Fritz Marcus hat bei ihr angerufen, hat seine Angst, da er die Frauen sah, ein einzigesmal zu überwinden vermocht und am späten Abend ins Telefon gestammelt: »Er ist in der Rosenstraße, vielleicht dürfen ein paar heraus.« Sie hat ihn kaum verstanden und in ihrer Erregung nur in die Muschel gerufen: »Und Frank? Und Esther? Sag' doch, Fritz, sind sie auch da?« Es ist keine Antwort mehr gekommen, Fritz Marcus hatte abgehängt.
 
Frank hält seine Mutter in den Armen, sie sind ihm wie erstarrt. Die Mutter spricht unablässig, als fürchte sie, nicht mehr bis zum Ende zu kommen; die Augen hat sie geschlossen, nur die vibrierenden Lippen bezeugen, daß Leben in ihr ist.
 
So hat sie dann auch in Julius Flataus Küche gesessen. Sofort nach dem Anruf von Fritz Marcus ist sie zum Olivaer Platz gefahren. Sie will bei ihrem Mann sein, wenn er kommt, und dann gleich erneut auf die Suche nach Frank und Esther gehen. Wenn er kommt ...
 
Noch nicht lange sitzt Grete Schattmann in der Küche, da beginnen die Sirenen zu heulen, und ins durchdringende Geheul platzen nahezu gleichzeitig dumpfe Detonationen. Flataus Nachbarin, dieselbe, die sie von der Abholung benachrichtigt hat, steckt erschrocken ihren Kopf durch die Tür. »Runterl« ruft sie. »Machen Sie bloß, die kommen heute in Massen.«
 
Grete Schattmann schüttelt stumm den Kopf. »Ich garantiere für nichts«, sagt die Frau, »wenn der Luftschutzwart kommt und Sie hier sieht. Na, Sie müssen's ja verantworten« Und rast hinaus.
 
Blitze peitschen in die Küche. Grete Schattmann hat nicht Kraft aufzustehen, das Verdunkfungsrollo herunterzulassen, sie sieht hinaus in das Blitzen, wie blind. Ein ungeheures Brausen nähert sich, läßt das Fensterglas klirren, ein Grummein und Rumoren vom Himmel, ein Donnern und Bersten von der Erde her, als seien Vulkane ausgebrochen, erschüttern Boden und Mauern; weich saust die Last der Bombenteppiche, begleitet vom wilden Geracker der Abwehrgeschütze, hernieder, ein Gewirk aus Metall und Feuer, das in glitzernder Schräge durch die Leichenfinger der Flakscheinwerfer fällt. Durch Dächer, Schiefer, Balken, Beton schlägt es krachend, zerfetzt das Gedärm der Stadt, stürzt durch Glutwolken, wälzt Phosphorbrände hoch, immer höher zur nächsten Welle dumpf herangrollender Motoren.
 
Der Luftdruck hat den Stuhl gegen den Herd geschleudert, das Geschirr aus den Schränken gerissen. Auf dem Fußboden liegt Grete Schattmann, bewegungslos, aber sie stöhnt in die kalten Fliesen hinein, nicht vor Schmerzen stöhnt sie, Furcht, Haß, Qual, eine irrböse Verzweiflung läßt sie aufstöhnen: »Gut, gut!« Bei jedem neuen Einschlag stöhnt sie dies schreckliche »Gut, gut, nur drauf auf uns!«.
 
So sieht die Nachbarin sie nach dem Angriff liegen, hilft ihr, sich aufs Sofa zu betten,- kocht Tee, reibt ihr die Brust mit Franzbranntwein, holt einen Arzt. Der will gleich wieder umkehren, als er an der Wohnungstür den Stern erblickt. Erst als die resolute Frau den Ausweis aus Grete Schattmanns Handtasche zieht, bequemt er sich zu flüchtiger Untersuchung. »Angina pectoris«, sagt er dann im Hausflur, »schaffen Sie sie lieber weg!« Grete Schattmann hört es, aber es ist ihr gleichgültig, was dieser Doktor sagt und mit ihr tut, sie läßt sich nicht fortbringen und hat kein Ohr für das gute Zureden von Flataus Nachbarin. »Ich bleibe hier, bis mein Mann kommt«, erwidert sie monoton. »Ich bleibe«, sagt sie und dreht sich zur Wand.
 
Als sie erwacht, vermag sie sich nicht zurechtzufinden; sie ist, scheint ihr, monatelang gelaufen, durch viele Städte und Länder, um ihre Familie zu finden, und es ist ihr nicht klar, ob sie immer noch träumt oder wach ist,- sie glaubt sich genarrt wie von einer Halluzination. Denn auf dem Stuhl vor ihr sitzt ihr Mann (...).