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Wunder und Wahrheit
von Christian Habbe
 
Quelle: "Der Spiegel", Heft 49/2002
 
Die Freilassung von 2000 Berliner Juden aus der Nazi-Haft galt lange Zeit als Wunder. Wie neueste Forschungen belegen, nicht ganz zu Recht.
 
Das Jahr 1943 zählt zu den dunkelsten der jüngeren deutschen Geschichte. Städte gingen im Bombenhagel unter, Propagandaminister Joseph Goebbels rief zum "totalen Krieg" auf, und in den Todesfabriken wurde rund um die Uhr gemordet. So war für die annähernd 2000 Berliner Juden, die die SS Ende Februar in deren Gemeindehaus in der Rosenstraße zusammengepfercht hatte, das Schlimmste zu erwarten.
 
Dann aber versammelten sich rings um das Zwangsquartier tagelang Hunderte Angehörige, meist Frauen, die trotz Drohungen durch Polizei und SS die Freilassung der Eingesperrten verlangten.
 
Tatsächlich wurden eine Woche nach Beginn des Massenprotests die ersten Gefangenen nach Hause geschickt. Der mutige Widerstandsakt hatte im Dritten Reich "nicht seinesgleichen", urteilte der Schriftsteller Georg Zivier bereits im Dezember 1945 über das vermeintliche Wunder in der Rosenstraße.
 
Doch das legendäre Geschehen vollzog sich offenbar teilweise nach dem Drehbuch der Nazis. Der Berliner Historiker Wolf Gruner, 42, kommt nach eingehenden Studien der Akten des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) zu dem Schluss, dass die Freilassung der inhaftierten Juden von vornherein geplant war, es folglich der Proteste wohl gar nicht bedurft hätte*.
 
Zahlreiche Reportagen und Forschungsarbeiten über diese vielleicht spektakulärste unter den seltenen Widerstandshandlungen während des NS-Regimes hatten bisher ein ganz anderes Bild beschworen. In der Hauptstadt erinnert sogar ein Denkmal an die Ereignisse in der Rosenstraße.
 
Aus der bisherigen Version zogen Geschichtswissenschaftler den Schluss, dass Deutsche auch anderswo der Judenverfolgung hätten trotzen können - hätten sie sich nur ähnlich couragiert verhalten wie die Demonstranten in Berlin. Dann, so folgert etwa der US-Historiker Daniel Goldhagen, wäre die "Durchführung des eliminatorischen Programms erheblich eingeschränkt" worden.
 
Aber dessen Kollege Gruner, ein auf Erforschung der Judenverfolgung spezialisierter Wissenschaftler, belegt, dass sich Hitlers willige Vollstrecker keineswegs einschüchtern ließen. Sie verfuhren nach einem ausgeklügelten Plan.
 
In Berlin lebten Anfang 1943 offiziell noch rund 15 000 Juden, die den Todestransporten bis dahin zumeist nur deshalb entgingen, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden oder mit nichtjüdischen Deutschen verheiratet waren. Diese "Mischehen", wie sie in den Nürnberger Rassengesetzen definiert wurden, schützten bis in die Endphase vor staatlicher Willkür.
 
Am 20. Februar hatte das RSHA "Richtlinien zur technischen Durchführung" der letzten Massenverschleppungen aus dem Reich erlassen. Sie regelten die so genannte Fabrik-Aktion, in deren Verlauf die Menschen meist von ihrem Arbeitsplatz weggeholt und - "schubweise, Tag für Tag bis zu 2000" (Goebbels) - nach Auschwitz abtransportiert wurden.
 
"Schlagartig" begann gemäß RSHA-Befehl überall im Reich am Morgen des 27. Februar "die Evakuierung bzw. Entfernung von Juden aus den Betrieben". Die von Gestapo-Stellen erfassten Opfer wurden in provisorischen Sammellagern zusammengetrieben, in Berlin wegen der großen Zahl auch mit Hilfe der Waffen-SS. 10 948 Juden aus dem ganzen Reich - rund 7000 aus der Reichshauptstadt - deportierten die Häscher bei der "Fabrik-Aktion" nach Auschwitz. Sie wurden dort größtenteils sofort ermordet.
 
Dass "arisch Versippte" wie die meisten aus der Rosenstraße dagegen "in ihre Wohnungen entlassen" werden sollten, war vom RSHA laut Gruner von Anfang an vorgesehen. Schon bei der "Wannsee-Konferenz" 1942, die die Ausrottung der europäischen Juden organisierte, blieben die in deutscher "Mischehe" Verheirateten ausgenommen. Dass dies auch bei der "Fabrik-Aktion" gelten sollte, bekamen Kirchenstellen sogar vom SS-Judenreferenten Adolf Eichmann persönlich bestätigt.
 
Freilich wurden 200 Inhaftierte aus der Rosenstraße dabei zum Mittel in einem perfiden Plan: Die SS verteilte sie als Ersatzpersonal auf die noch existierenden jüdischen Einrichtungen Berlins - und deportierte an deren Stelle etwa 450 Juden, die den schützenden Sonderstatus nicht besaßen.
 
Das Gros der Betroffenen kannte allenfalls die bedrohlichen Gerüchte, die tagelang im Land kursierten. "Da war immer die Angst, es geht in den Osten", erfuhr die Regisseurin Margarethe von Trotta, die gegenwärtig einen Spielfilm über die Rosenstraße dreht und seit Jahren Gespräche mit Überlebenden führt.
 
Auch Historiker Gruner will mit seinen Aktenbelegen nicht das "einzigartige Verhalten" der mutigen Demonstranten relativieren, die schließlich die SS-Pläne nicht kennen konnten. Aber zum Symbol für erfolgreichen deutschen Widerstand gegen antijüdische NS-Maßnahmen taugt das Ereignis nach seiner Einschätzung denn doch nicht.
 
Eine wirksame Opposition, so Gruner, hätte sich "viel früher und breiter formieren müssen: 1933 und in allen Schichten der Gesellschaft".
 

Gruner, Wolf (2002) "Die Fabrik-Aktion und die Ereignisse in der Berliner Rosenstraße". In: Wolfgang Benz (Hg.): "Jahrbuch für Antisemitismus-Forschung 11". Metropol Verlag, Berlin; 340 Seiten; 22 Euro.